1800:
Aufklärung und nahender Umbruch
Eine Gesellschaft unter Führung des
sachsen-coburg-saalfeldischen Kommerzienrats Ehregott Adam Friedrich
Meyer (1765–1819) aus Neustadt bei Coburg – damals noch Neustadt an
der Heide – besuchte im Jahr 1800 das Benediktinerkloster Banz. Dort
war man gewohnt, Gäste zu empfangen, nicht nur solche aus der
Nachbarschaft, sondern auch von weither. Denn das Kloster hatte in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Ruf in der gelehrten Welt
errungen, der es zu einem geistigen und zum gesellschaftlichen
Mittelpunkt in Franken machte. Bezeichnenderweise kostete der Unterhalt
des über dreißigköpfigen Konvents nur wenig mehr als die Verpflegung
der Besucher
[163]
.
Die Leistungen der Mönche in diversen wissenschaftlichen
Disziplinen – nicht nur in der Theologie, in der Banz zum Vorreiter
der katholischen Aufklärung wurde, sondern auch in der Philosophie, in
der Literaturwissenschaft, in der Vermessungskunde, in der Biologie
[164]
–, dazu die modernen, aufklärerischen Ansprüchen genügende
Bibliothek, das umfangreiche Naturalienkabinett, die Münzsammlung des
Abtes waren die Attraktionen. Unter katholischen Gelehrten hatte sich
Banz einen Namen gemacht durch die Herausgabe einer Zeitschrift mit
wechselndem Titel ab 1772, in der vornehmlich – teilweise sehr
umfangreiche – Rezensionen neuerschienener Bücher aus allen
Wissensgebieten, namentlich theologischer und philosophischer Werke
erschienen
[165]
.
Endgültig war das Kloster durch die vielgelesene
Reisebeschreibung des Berliner Buchhändlers Friedrich Nicolai (1733–1811)
zu Berühmtheit gelangt, wie einer der prominentesten Banzer
Konventualen, P. Placidus Sprenger (1735–1806), 1803 konstatierte: „Durch
diese Reisebeschreibung ward unser Klosterstift, absonderlich im
protestantischen Deutschland, mehr als durch gelehrte Zeitungen,
bekannt, und viele Gelehrte und Vornehme wurden dadurch gereizt, es mit
ihrem Besuche zu ehren und mit eignen Augen zu sehen.“
[166]
Friedrich Nicolai, der dem Katholizismus skeptisch
gegenüberstand und hergebrachte Frömmigkeitsformen mit grimmigem Hohn
kommentierte – angesichts einer Wallfahrt nach Vierzehnheiligen sprach
er von „schändlichen Ausbrüche[n] des Aberglaubens, der Dummheit,
und der Zügellosigkeit“
[167]
–, fand für Banz rühmende Worte: „Wir sahen noch eine gute Weile
nach den Thürmen von Banz zurück, und es kreuzten sich in mir viele
Gedanken über das Mönchsleben. Es ist gewiß, wenn man es von der
vortheilhaftesten Seite ansehen will, so muß man es zu Banz sehen. Ein
schönes Gebäude, in gesunder Luft, in einer angenehmen und fruchtbaren
Gegend. Ein verständiger und toleranter Abt, gelehrte Religiosen, ein
gewisser, freyer und herzlicher Ton im Umgange, den ich in sehr wenig
andern Klöstern gefunden habe.“
[168]
Auf den Spuren Nicolais kamen zahlreiche Gelehrte nach
Banz, so der Altdorfer Professor Georg Andreas Will (1727–1798), ein
namhafter Historiker und Numismatiker, der Erlanger Apotheker und
Honorarprofessor Ernst Wilhelm Martius (1756–1849)
[169]
,
der Erlanger Philosophie-Professor Friedrich Carl Gottlob Hirsching
(1762–1800)
[170]
und der Salzburger Konsistorialrat Klement Alois Baader (1762–1838)
[171]
.
Zu den Vornehmen zählten nicht nur viele Adlige der Umgebung, sondern
auch Herzog Karl Eugen von Württemberg (1728–1793), der am 8. März
1785 von Bamberg aus einen Abstecher nach Banz machte
[172]
;
zweimal versuchte er – beide Male vergeblich –, Banzer Mönche an
seinen Stuttgarter Hof zu berufen
[173]
.
Kommerzienrat Meyer unterschied sich, als er 1800 nach
Banz kam, von den übrigen Gästen,weil er gewissermaßen einen
Gegenbesuch abstattete, denn Abt Otto Roppelt (reg. 1792–1800) hatte
während des Sommers 1800 einige Tage im Hause Meyers zu Neustadt
verbracht
[174]
.
Der Abt war 1796 von französischen Truppen für einige Zeit als Geisel
genommen worden und floh daher beim neuerlichen Einfall, um die Gefahr
wissend, rechtzeitig. Dass er sich in das benachbarte Herzogtum
Sachsen-Coburg-Saalfeld wandte, spiegelt das gute Verhältnis des
Klosters zu Coburg, wo ab 1775 auch die Banzer Zeitschrift verlegt
wurde, ebenso Werke von Konventualen.
Im Juli 1800 drangen französische Truppen im Rahmen des
2. Koalitionskriegs, der 1798 um die Vorherrschaft im Mittelmeerraum
entbrannt war, nach Franken vor, als sie sich militärisch gegen
Österreich durchgesetzt hatten und das Hochstift Bamberg zum
französischen Einflussgebiet erklärt war. Durch die Erfolge
Frankreichs standen politische Umwälzungen ins Haus. Der Frieden von
Lunéville, der das Ende des 2. Koalitionskriegs einleitete, bestimmte
den Rhein als Grenze zwischen Frankreich und dem Reich; die
Gebietsverluste der deutschen Fürsten sollten, wie schon 1797 im
Frieden von Campoformio ins Auge gefasst, durch die Säkularisation
geistlicher Fürstentümer entschädigt werden.
Geistliche Institutionen waren im Zeitalter der
Aufklärung ohnedies ins Fadenkreuz der Politik geraten. In den 1780er
Jahren hatte Kaiser Joseph II. rund 800 Klöster und Stifte in den
habsburgischen Erblanden aufgehoben, vor allem Niederlassungen von
Bettelorden. Lediglich Klöster, die dank ihrer seelsorgerlichen,
schulischen oder karitativen Aufgaben als „gemeinnützlich“ – ein
Schlüsselwort der Aufklärung – galten, überstanden die
josephinischen Reformen.
Doch als Entschädigung für die Fürsten, die
linksrheinische Gebiete an Frankreich verloren hatte, waren um 1800
bereits geistliche Fürstentümer und auch Klöster im Gespräch. Eine
Säkularisierungswelle schien bevorzustehen, was ein Mitglied der
Meyerschen Reisegesellschaft zu dem Ausruf veranlasste: „Meinethalben
mögen die Großen und Gewaltigen alle Klöster metamorphosiren, ich
will nichts dawider haben; nur Banz sollen sie mir ungehudelt lassen,
oder sie haben es mit mir zu thun.“
[175]
Auf der Rückreise, nachdem jeder sich vom blühenden Geistesleben und
der geordneten klösterlichen Wirtschaft überzeugt hatte, sprach die
gesamte Gruppe die Hoffnung aus, „daß keine Secularisation diesen
Sitz so vieler würdigen und vortrefflichen Menschen treffen möge“
[176]
.
Doch gewann, wie der Banzer Konventuale Georg Ildephons
Schatt 1821 in seiner Biographie des letzten Banzer Abtes Gallus
Dennerlein schrieb, „das hundertzüngige Gerücht“, das „von
Aufhebung der Klöster sprach, immer mehr an Wahrscheinlichkeit“
[177]
.
Wie stark man in Banz damit rechnete, an Bayern zu fallen und aufgehoben
zu werden, wurde offenbar, als im April 1802 der bayerische Major Karl
Roger von Ribaupierre (1755–1809), aus Bamberg kommend, im Kloster
eintraf. Ihn hatte Kurfürst Maximilian IV. Joseph von Bayern (reg. 1799–1825)
als „einen seiner fähigsten Generalstabsoffiziere“
[178]
gesandt, damit er die Kurbayern zugedachten Gebiete in Augenschein
nehme. Besuchte er gemeinhin nur Reichs- und Residenzstädte, so
erschien ihm doch die „berühmte Benediktinerabtei Banz [...] zu
einladend, um nicht besucht zu werden“.
In Banz hatte man von der Ankunft des bayerischen
Spähers schon erfahren; der Abt hieß Ribaupierre auf zuvorkommende
Weise willkommen, wobei er ihm „deutlich zu verstehen [gab], daß er
mich als bayerischen Kommissär empfange.“ Von dieser Ansicht ließ
sich der Prälat nicht abbringen; er richtete unverklausuliert eine
Bitte an den Major: „Einen Herrn müssen wir haben, wir wissen zu
gehorchen, werden uns zu jeder nützlichen Bestimmung bereitwillig
finden und also scheuen wir auch nicht, den Wunsch zu äußern, daß,
wenn das Kloster nicht bestehen darf, wir darin aussterben dürfen.“
[179]
Der Abt bot Ribaupierre an, das gesamte Kloster zu
besichtigen, doch dieser beschränkte sich
hier ganz Bildungsreisender auf die Bibliothek und das
Naturalienkabinett. Beim Mittagessen im Refektorium traf er, so sein
Bericht, „unter der Mönchskleidung lauter Männer [...], wie solche
sehr selten in der gebildetsten Welt zusammentreffen. Man überließ mir
unmerklich, die Gegenstände für die Unterhaltung zu wählen. Über
Politik, Mönchtum, Jesuitismus, neueste Philosophie fanden freimütige
Äußerungen statt“.
Ebenso wie die anderen aufklärerischen gesinnten Gäste
der Abtei war Ribaupierre ausgesprochen angetan von den Begegnungen in
Banz. Er schloss den Abschnitt in seinem Rapport mit den Worten: „Ich
entfernte mich mit hoher Achtung für das Phänomen: Menschenwürde
unter der Mönchskappe.“
[180]
Gallus Dennerlein trieben Pläne um, wie er das Kloster
erhalten könne. Dass es nicht zu einer Fabrik tauge, führte er
Ribaupierre vor Augen
[181]
.
Doch sah er ein, dass „gemeinnützliche“ Aufgaben nötig waren. „Die
Umschaffung des Klosters zu einer Schul- und Studienanstalt war daher
der Hauptgedanke, um den sich in seiner Seele alle anderen wie Planeten
um ihren Fixstern bewegten.“
[182]
Doch alle Pläne wurden nichtig, nachdem am 30. November
1802 der Bamberger Hof- und Regierungsrat Georg Friedrich Merz namens
des neuen Landesherrn die Abtei in Besitz genommen und mit einer
anschließenden detaillierten Inventarisation des Klosters sowie der
Entlassung der fünf Novizen am 24. Dezember 1802 der Aufhebungsvorgang
begonnen hatte; im September 1803 verstreute sich der Konvent
[183]
.
Umwälzungen kündigten sich an: von den ,territoria non
clausa‘ hin zu Flächenstaaten, von der Bündelung einzelner
Rechtstitel hin zur Staatssouveränität, von der Tradition als
bestimmender Kraft hin zur Nützlichkeit als Leitlinie. Das bedeutete
auch, dass dem fränkischen Niederadel der Verlust seiner
Reichsunmittelbarkeit drohte.
Um 1800 behaupteten die Mitglieder der reichsritterlichen
Familien noch ihre althergebrachten Positionen. Sie stellten die
Domherren, die aus ihrer Mitte bei einer Vakanz des Bischofsstuhls den
neuen Oberhirten kürten. Die letzte Wahl des 18. Jahrhunderts war 1795
auf den siebzigjährigen Christoph Franz von Buseck (1724–1805)
gefallen – und nicht auf den vom Kaiser gewünschten Georg Karl von
Fechenbach (1749–1808), Busecks Neffen
[184]
.
Dieser errang zwar die Bischofswürde in Würzburg, nicht aber in
Bamberg, so dass die seit 1757 hergebrachte Personalunion beider
Hochstifte beendet war.
Wie Karl Heinrich Ritter von Lang (1764–1835) in seinen
Memoiren berichtet, hatte der mit vizeköniglicher Gewalt ausgestattete
Minister Karl August von Hardenberg (1750–1822), der Verwaltungschef
der 1792 an Preußen gefallenen Fürstentümer Bayreuth und Ansbach,
jenes Wahlergebnis mittels Bestechung eines Domherrn herbei geführt.
Der Gekaufte brüstete sich nach der Wahl, „daß man [...] mit der
Person des Neugewählten zufrieden sein werde; denn ein schwächerer und
einfältigerer Mann, als dieser, wär’ im ganzen Germanien gewiß
nicht zu finden gewesen“
[185]
.
Angeblich war auch die Reaktion des Volkes, als der Name des neuen
Oberhirten ausgerufen wurde, von Enttäuschung geprägt, hatte man doch
drei andere Kapitulare, darunter Fechenbach, als Favoriten angesehen
[186]
.
Ein namentlich nicht bekannter höherer bayerischer
Beamter charakterisierte den Fürstbischof 1802, am Vorabend der
Säkularisation, so: „Der Fürst nahe an 79 Jahren, beinahe ohne
Gedächtnis, regiert nur durch Eigensinn, in gewissen Fällen fast ganz
unter dem Einfluß des geheimen Referendärs, und einiger – mehr
unbekannt wirkender Menschen, die ihn mißbrauchen, wenigstens benutzen.“
[187]
Immerhin wurde 1800 eine erneute Personalunion der beiden
Mainbistümer vorbereitet: Fechenbach wurde vom Bamberger Domkapitel zum
Koadjutor seines Onkels Buseck gewählt
[188]
;
verbunden damit war das Recht der Nachfolge als Fürstbischof. Doch der
greise Buseck überlebte das Hochstift Bamberg, das im Herbst 1802 an
das Kurfürstentum Bayern fiel; als letzter Fürstbischof starb er,
seiner weltlichen Herrschaft entkleidet, am 28. September 1805.
Doch nicht nur das hergebrachte Recht des Adels auf die
Domherrenpräbenden bestand wie seit Jahrhunderten. Auch maßgebliche
Positionen in der weltlichen Verwaltung waren traditionell mit Söhnen
ritterschaftlicher Geschlechter besetzt. Unter den 76 Hof- und
Regierungsräten, die man 1802 in Bamberg zählte, waren 31 von Adel
[189]
.
Hinzu kamen Stellen außerhalb der Residenzstadt. So stand seit 1773 der
Verwaltung im Amt Lichtenfels als Oberamtmann
[190]
Philipp Anton Reichsfreiherr von Künsberg zu Oberlangenstadt,
Tüschnitz und Nagel (1747–1807) vor. 1802 konstatierte der zitierte
bayerische Beamte: „Die Oberämter sind den weltlichen Söhnen des
Adels – was den Geistlichen die Präbenden sind“; diese Stellen
könnten „aus der Maschine des Staats weggenommen werden [...], ohne
einen Stillstand in derselben hervorzubringen; sie sind nach einem sehr
richtigen Ausdruck unnüze Überladungen. Ihrer sind 19 im Genuß
ansehnlicher Nutzungen, die oft in ganzen Domänen, Schlössern, Wiesen,
Grundstücken, Zehnden, Waldungen, Naturalien, Jagden, sogar Regalien
bestehen.“
[191]
Philipp Anton von Künsberg residierte um 1800 nicht in
Lichtenfels, denn er hatte zugleich ein Hofamt inne: Er war
Oberstallmeister des Fürstbischofs. Seinen Arbeitsalltag hat Albert
Elstner, offenbar gestützt auf Aufzeichnungen des Sohnes von Philipp
Anton, wie folgt geschildert: „Gegen 12 Uhr kam täglich der
Oberstallmeister, gepudert, den Zopf frisch gewickelt, in rot-gold
bestickter Uniform, weißen Kaschmirbeinkleidern, Stiefel und Sporen, in
seinem Stadtwagen zur fürstlichen Durchlaucht, um über den Marstall
den schuldigen Rapport zu machen und die Befehle entgegenzunehmen. [...]
Zum Bereich des Oberstallmeisters gehörte auch die Pagerie. [...] Im
Herbst nahm der Oberstallmeister zwei Züge fürstlicher Pferde mit nach
Oberlangenstadt, um dort seine Ökonomie zu bestellen.“
[192]
Äußerlich betrachtet, unterschied sich das Verhältnis
der Niederadligen zum Hochstift um 1800 nicht von früheren Zuständen.
Der Fürstbischof war für viele Ritter Lehensherr, für zahlreiche auch
Dienstherr; gleichwohl behaupteten die Niederadligen ihren
reichsunmittelbaren Status, der ihren Dörfern weitgehende
Unabhängigkeit vom Fürstentum sicherte, das den ritterschaftlichen Ort
nicht selten ganz umschloss. Die bambergische Haltung ihnen gegenüber
basierte auf der althergebrachten, durch zahllose Streitigkeiten
geformten Rechtslage. Im Grunde war der einzelne Ritter auch vom
benachbarten Adligen unabhängig, allerdings waren die Geschlechter in
Ritterkantonen zusammengeschlossen. Die Mehrzahl der Güter im heutigen
Landkreis Lichtenfels zählten zum Kanton Gebürg, dessen Kanzlei samt
Archiv und Botenwohnung sich in der fürstbischöflichen Residenzstadt
Bamberg befand
[193]
.
Einen ganz anderen Weg als die Bamberger Bischöfe
beschritt Karl August von Hardenberg in den preußisch gewordenen
Markgraftümern Bayreuth und Ansbach. Ungeachtet früherer
Rechtspositionen, selbst von den Markgrafen geschlossene Verträge
missachtend, nahm Hardenberg den reichsritterlichen Gütern ihre
Unabhängigkeit vom umgebenden Fürstentum. Hardenberg ließ sich seine
bereits begonnene Politik 1796 durch eine königliche Instruktion
legitimieren. Diese postulierte die fränkischen Markgraftümer als „ein
völlig geschlossenes Land“; innerhalb der Grenzen gebe es nur die
Landeshoheit des Fürsten und kein anderes, davon unabhängiges
Herrschaftsrecht.
Zu Recht hat Fritz Hartung das Vorgehen Hardenbergs, der
sich nötigenfalls auf Gewalt stützte, als völlig neuartig
charakterisiert. „Es war ein schlechthin revolutionärer Akt, zu dem
Hardenberg seinen König veranlaßte.“ Zugrunde lag die „Theorie von
der Unveräußerlichkeit, Unteilbarkeit und Ausschließlichkeit der
Souveränität des Staates. Sie hatte das 18. Jahrhundert beherrscht,
Rousseau hatte sie scharf formuliert, die französische
Nationalversammlung hatte sie praktisch zu verwirklichen gesucht“. Auf
der Grundlage des Gedankens von „Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des
Staates“ drängte Hardenberg die Ritter zurück
[194]
.
Unbekannt war solches Gedankengut auch im Hochstift
Bamberg nicht. Dies zeigte sich etwa im Sommer 1796, als von seiten
Bambergs die Herrschaft des in Schney residierenden Reichsgrafen Wilhelm
Christian August von Brockdorff (1752–1824) über Unterleiterbach
praktisch in Frage gestellt wurde
[195]
.
Damals herrschte Krieg zwischen dem revolutionären
Frankreich und dem Reich. Nachdem die Franzosen unter General Jourdan
Anfang August ins Hochstift Bamberg eingefallen und bis in die Oberpfalz
vorgedrungen waren, mussten sie sich Ende August in den Raum Würzburg
zurückziehen. Bei Oberpleichfeld wurden sie am 3. September vom
kaiserlichen Heer derart schwer geschlagen, dass sie Franken verlassen
mussten
[196]
.
Um die Truppen zu versorgen, waren erhebliche
Transportleistungen erforderlich. Dafür hatten die bambergischen
Untertanen Wagen und Pferde unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Als
der Vogt von Zapfendorf einen bespannten Wagen auch von den Bewohnern
des brockdorffischen Dorfes Unterleiterbachern verlangte, erhielt er die
Antwort, dass das Hochstift Bamberg ihnen keine Befehle erteilen könne.
Von Bamberg angewiesen, nötigenfalls gewaltsam
vorzugehen, machte sich der junge, gerade zum Vogt berufene Jurist Franz
Geiger (1770–1846) daran, die Stellung eines Fuhrwerks zu erzwingen.
Doch als er dies versuchte, ließ Graf Brockdorff ihn und seine 15
Begleiter in Unterleiterbach entwaffnen und für einige Stunden
festnehmen. Geigers Bericht über dieses Ereignis ist bestimmt von
seiner typisch aufklärerischen Adelskritik
[197]
und der modernen Idee der Staatssouveränität: Unterleiterbach liege im
bambergischen Territorium, und Einschränkungen der fürstbischöflichen
Herrschaft beruhten nicht auf einem Recht des Grafen von Brockdorff,
sondern auf einer Gnade des geistlichen Landesherrn.
Unter dem Eindruck von Geigers Schreiben bezeichnete die
Regierung zu Bamberg das Verhalten des Grafen als „erniedrigend“ und
„beleidigend“. Dem Hochstift Bamberg und seinem Beamten solle
Genugtuung verschafft werden, indem Militär, angeführt vom
Zapfendorfer Vogt, von den gräflichen Hintersassen Fuhrleistungen
unbedingt beitreibe. So marschierten wenige Tage später 80 bis 100
bambergische Soldaten in Unterleiterbach ein, verhafteten sechs Männer,
riefen die übrigen Einwohner zusammen, bildeten um sie einen Kreis, und
der Hofkriegsrat, der den Trupp kommandierte, hielt eine „Strafrede“.
Der Wirt und sein Knecht mussten in Bamberg vier Tage Frondienst mit
Wagen und zwei Pferden leisten.
An die beiden Vorfälle schloss sich ein Papierkrieg an.
Geiger beschwerte sich über den Grafen; Graf Brockdorff erregte sich
über das bambergische Vorgehen; der Ritterkanton protestierte, die
Bamberger Regierung wies die Vorwürfe zurück und erklärte ihrerseits,
das Auftreten des Grafen und die Weigerung seiner Hintersassen nicht
hinnehmen zu wollen. Der Kanton sah im Vorgehen Methode: „Keinesweges
kann uns zugemuthet werden [...], daß unsere Rittergüter, ihre
Besitzer und Unterthanen von der Willkühr der Hochstiftsstellen
abhangen und daß sie unbefugten Befehlen und Exekutionen preisgegeben
werden sollen.“ Als das Amt Zapfendorf in einem Schreiben die
gräflichen Untertanen als „brockdorfische Lehenleute“ bezeichnete
und damit ausdrückte, dass dem Grafen lediglich die Lehenshoheit, aber
keine weiteren Herrschaftsrechte zukämen, fand der Ritterkanton
deutliche Worte: „Diese Benennung ist nun erwiesene Nachahmung des
bayreuthischen Benehmens und Grundsatzes, und es scheinet also wirklich,
daß es auf Unterjochung des unmittelbaren Ritterguts Unterleiterbach
angesehen seyn wolle.“ Um den Anfängen zu wehren, erhob der Kanton
Klage gegen Bamberg beim Reichshofrat.
Praktische Auswirkungen hatte das bambergische Vorgehen
freilich nicht. Zwar gab es zwar unter den Beamten einige Männer, die
allzu gerne die Politik Hardenbergs nachgeahmt hätten, doch das
Bestreben der Hochstiftsspitze ging nicht dahin. So blieb denn die
gewachsene Verfassung bestehen, auch wo sie unzweckmäßig war. Erst das
Kurfürstentum Bayern beseitigte binnen weniger Jahre die auf eigenem
Recht gründete Herrschaft des Niederadels
[198]
.
Beharrung bildete die ausschlaggebende Größe nicht nur
im Verhältnis mehrerer Herren zueinander, sondern selbst innerhalb des
Hochstifts. Tradition, nicht Zweckmäßigkeit bestimmte die Praxis. So
lagen etliche Lehen, von denen der Lichtenfelser Kastner die Abgaben
einnahm, im Amt Burgkunstadt
[199]
;
in Marktgraitz unterstanden die bischöflichen Lehen drei verschiedenen
Verwaltungen
[200]
.
Doch die Kraft zu tiefgreifenden, umfassenden Reformen
fehlte im Hochstift Bamberg. Die Spitzenbehörden übten nicht die „oberste
Controlle“ aus, sondern kümmerten sich um Details und fällten
Einzelentscheidungen selbst; die Kompetenzen der einzelnen
Regierungsstellen waren unscharf abgegrenzt, was zu „stetten
Collisionen“ führte. Ein Gesetzeskodex lag nicht vor. Statt dessen
gab es zahllose landesherrliche Verordnungen, „allein weder
systematisch, weder alphabetisch, weder chronologisch sind sie gesamelt“.
Die Behörden mußten in jedem Fall „sorgfältig forschen, was
verordnet ist, um darüber zu erkennen, was der Unterthan hätte thun
sollen“
[201]
.
Eifrig wurden die Herrschaftsverhältnisse in den
einzelnen Orten beschrieben, wurden wirtschaftliche Strukturen
untersucht, wobei freilich nicht der Staat tätig wurde, sondern
Privatmänner wie der Banzer Mönch und Bamberger Mathematik-Professor
P. Johann Baptist Roppelt (1744–1814)
[202]
,
der Schweinfurter evangelische Geistliche Johann Kaspar Bundschuh (1753–1814)
[203]
,
der Bamberger Archivar Benignus Pfeufer (1732–1797)
[204]
oder der Bamberger Student und nachmalige fürstbischöfliche Kammerrat
Franz Adolph Schneidawind (1766–1808)
[205]
.
Obrigkeitliche Statistiken als Planungsgrundlage, wie sie die
Aufklärung für unverzichtbar hielt, waren Mangelware:
„Eben so wenig als das Land vermessen, sind die Menschen gezählet.“
[206]
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