1900:
Am Ende des technischen Jahrhunderts

Mit Optimismus begrüßten die Deutschen in der
Silvesternacht des Jahres 1899 das neue Säkulum. Man blickte zurück
auf die Lage um 1800, und mit stolzgeschwellter Brust stellte man das
neue, 1871 geschaffene Reich mit seinem Großmachtstreben dem
verfallenden, politisch schwachen Heiligen Römischen Reich der Zeit um
1800 gegenüber. Auch die technischen Neuerungen des zurückliegenden
Jahrhunderts ließ man Revue passieren. In der Frankfurter
Zeitung schrieb Wilhelm Bölsche:
Das „Geräusch des 19. Jahrhunderts [...] ist kein
Schlachtdonner und kein Feldgeschrei [...]. Es ist das Donnern des
Eisenbahnzuges, der das Granitmassiv eines Schneegebirges im Tunnel
durchquert, das Pfeifen von Dampfmaschinen, das Singen des Windes in
Telegraphendrähten und der sonderbare Laut, mit dem der elektrische
Straßenbahnwagen, in seiner Leitung hängend, daherkommt.“
[207]
Spricht man von technischen Neuerungen des 19.
Jahrhunderts, so denkt man zunächst an die dadurch ermöglichte
industrielle Revolution, an große, dampfmaschinengetriebene Maschinen,
an Fabriken in den Städten. Aus dem heutigen Landkreis Lichtenfels sind
da vor allem die ab 1888 entstandenen Burgkunstadter Schuhfabriken zu
nennen, aber auch die Großbrauereien in Klosterlangheim und Lichtenfels
oder die Porzellanfabriken in Schney und Hausen.
Das Landleben mochte dem flüchtigen Betrachter dagegen
statisch erscheinen, so, als habe sich gegenüber den zurückliegenden
Jahrhunderten nur wenig geändert. Dieser Eindruck wird noch
unterstützt, wenn man etwa liest, wie der französische
Agrarwissenschaftler Georges Blondel 1897 bäuerliche Wohnverhältnisse
in Uetzing und Umgebung schilderte. Von einer sechsköpfigen Familie in
Serkendorf berichtet er: „Sie bewohnen ein kleines Haus, von dem nur
ein Teil aus Stein ist, der Rest ist aus Lehm und dient als Stall. Der
Teil aus Stein umfasst im Parterre einen Hauptraum, dessen ganze
Innenausstattung aus einem Tisch, einer Bank, einem Herd und zwei
Schemeln besteht; ein kleiner angrenzender Raum dient als Küche und
Abstellraum. Die Wände sind gekalkt und geschmückt mit einer
Pendeluhr, einem Kruzifix und zwei groben Stichen religiöser Thematik.
Obwohl diese armen Leute lesen können, besteht ihre ganze Bibliothek
aus einem Gebetbuch und einem Almanach. Die erste Etage, zu der man
über eine baufällige Treppe gelangt, ist nichts als ein Speicher, von
dem man jeweils einen Bereich für die Jungen und einen für die
Mädchen abgeteilt hat. Als Bett steht lediglich eine Holzkiste zur
Verfügung, die mit Stroh ausgelegt ist; über das Stroh hat man ein
grobes Stück Tuch ausgebreitet. Gebrauchsgegenstände, Haushaltswäsche
und Kleidung sind auf ein Minimum beschränkt. Der aus Lehm gebaute Teil
des Hauses dient als Stall für 4 Kühe, 3 Schweine, 3 Gänse und 4
Hühner. Neben dem Wohnhaus sind ein Backhaus aus Stein und eine recht
geräumige Scheune angelegt, wo wir zwei in gutem Zustand befindliche
Leiterwagen und einen reichlichen Vorrat an sehr gutem Futter antreffen.“
[208]
Nur wenig anders wäre ein bäuerliches Anwesen Jahrzehnte, Jahrhunderte
zuvor beschrieben worden.
Und dennoch hatten technische Innovationen auch in der
Landwirtschaft längst Einzug gehalten. Heute so nostalgisch wirkende
Fotografien, auf denen Männer und Frauen auf, vor und neben einer
dampfbetriebenen Dreschmaschine posieren, legen davon Zeugnis ab.
Zunächst nur auf den großen Gutshöfen eingesetzt – auf dem Gut
Kutzenberg war schon 1863 eine Dampfdreschmaschine im Einsatz, 1864 gab
es deren zwei
[209]
–, wurden sie vom ausgehenden 19. Jahrhundert an auch von den
größeren Bauern in manchen Dörfern angeschafft; da und dort bildete
sich, wie 1883 in Reundorf, eine Dampfdreschgenossenschaft. Noch
verbreiteter war als Antriebskraft der Göpel, bei dem ein im Kreis
gehendes Rind die Energie für den Antrieb kleinerer Maschinen und
Geräte lieferte. In Reundorf wurden zwischen 1881 und 1908 fünf
Göpelhallen errichtet
[210]
.
Sichtbarer war der technische Fortschritt, waren die
Wandlungen in den Städten. Namentlich Lichtenfels boomte im späten 19.
Jahrhundert geradezu. Hatte die Einwohnerzahl der Stadt 1880 noch bei
2487 gelegen, so war sie 1890 um 21 Prozent auf 2959 gestiegen, und 1900
zählte man schon 3934 Menschen – Tendenz weiter steigend
[211]
.
So breitete sich die Siedlung denn nach allen Richtungen aus und
veränderte ihr Gesicht: An der Coburger Straße zwischen Main und
äußerem Mühlbach wurden ab 1885 Häuser errichtet, ab 1886 an der „Schanz“,
d. h. an der Langheimer Straße
[212]
.
Um dieselbe Zeit setzte eine rege Bautätigkeit längs der Bamberger
Straße, jenseits der Leuchse, ein. Ab 1900 legte der Bauunternehmer
Hans Diroll (1871–1949) das sogenannte Sandviertel (Obere, Untere und
Vordere Sandstraße, Sandplatz) sowie die Schiller- und die
Goethestraße an
[213]
.
Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Wohnhäuser rechts des Mains,
an der Alten Coburger Straße, gebaut.
Zur Amts- und Villenstraße entwickelte sich die
Kronacher Straße, wo seit 1894 auch ein evangelisches Pfarrhaus mit
Betsaal stand. Nötig geworden war die Gründung einer eigenständigen
evangelischen Gemeinde durch die zahlreichen Beamten und Angestellten in
Lichtenfels nötig geworden war, von denen nicht wenige Protestanten
waren. Unverzüglich begann man, Geld für einen Kirchenbau zu sammeln.
Der Schneyer Pfarrer Otto Schlier veröffentlichte 1898 im Verlag H. O.
Schulze, der damit erstmals ein umfangreicheres Buch publizierte
[214]
,
die „Thomasianischen Episteln“ zugunsten des Baufonds
[215]
.
1902/03 wurde dann die evangelische Kirche nach Plänen des Bamberger
Architekten Gustav Häberle (1853–1930)
[216]
errichtet, der auch die katholische Herz-Jesu-Kirche von Schwürbitz
[217]
und die Kemenate auf der Altenburg
[218]
geplant hat.
Zu verdanken hatte Lichtenfels sein Wachstum insbesondere
der Bahn. Seit 1845/46 an das Eisenbahnnetz angeschlossen, war die Stadt
seit Eröffnung der Werrabahn nach Eisenach 1859 Knotenpunkt. Nach der
Eröffnung der Bahnlinie nach Probstzella 1885 lag Lichtenfels dazu an
der neuen Magistrale München – Berlin
[219]
.
Nun erhob sich die heftig umstrittene Frage, welche
Station den Ausgangspunkt der Strecke nach Probstzella bilden und damit
auch Sitz regionaler Bahnbehörden werden sollte: Kronach, Hochstadt,
Lichtenfels oder Bamberg. Die bayerische Regierung entschied sich für
Lichtenfels, und der Landtag genehmigte, nachdem der langjährige
Bürgermeister (im Amt von 1870 bis 1912) und liberale
Landtagsabgeordnete Adam Wenglein (1833–1915)
[220]
,
der Lichtenfelser Apotheker, sich dafür stark gemacht hatte, 1886 und
1890 erhebliche Mittel für den Ausbau der hiesigen Bahnanlagen.
Durch die Verlegung von Bahnbehörden nach Lichtenfels
wurden Neubauten erforderlich, die, von 1886 an innerhalb eines
Jahrzehnts errichtet, das Stadtbild bis heute prägen: zwei
vierstöckige Beamtenwohnhäuser am Bahnhofsplatz und in der
anschließenden Zweigstraße, ferner die „Neubäu“, zwei mächtige
Ziegelsteinbauten mit 64 Wohnungen, vier Stockwerke hoch und je 35 Meter
breit, auf halbem Weg zwischen Lichtenfels und Seubelsdorf gelegen, ein
Übernachtungsgebäude beim Bahnhof, die Bahnmeisterei, eine Güterhalle
und ein Freiladehof an der Bamberger Straße. An die Stadtseite des
Bahnhofs wurde eine Schalterhalle angebaut
[221]
.
Um die gleiche Zeit verschwand auch ein Stück
Kleinstaaterei. Denn die Bahn war entweder ein Unternehmen eines
deutschen Bundesstaats oder einer privaten Gesellschaft, nicht des
Reichs. So saß denn in Lichtenfels eine bayerische Bahnverwaltung für
die Linien nach Bamberg, Hof und Probstzella und parallel dazu die
Verwaltung der Werrabahn. Da die private Werrabahngesellschaft sich
weigerte, den Güterdienst vom bayerischen Personal versehen zu lassen,
gab es in Lichtenfels zwei Bahnverwaltungen, zwei Güterhallen und zwei
Lokschuppen, und am Coburger Tor versah ein bayerischer Weichenwärter
zusammen mit einem Kollegen von der Werrabahn den Dienst. Erst 1891 gab
die Werrabahn den Bahnbetrieb in Lichtenfels ganz in bayerische Hand;
ihr Personal wurde von der Königlich Bayerischen Bahn übernommen
[222]
.
Doch wirkte die Verwaltung der Werrabahn – 1895
verstaatlicht und fortan preußische Staatsbahn, beaufsichtigt von der
Eisenbahndirektion Erfurt – auch weiter in die oberfränkischen
Verkehrsverhältnisse hinein. So bemühten sich die Handels- und
Gewerbekammern von Oberfranken und von Coburg 1897 um eine durchgehenden
Schnellzugverbindung Eger – Bayreuth – Lichtenfels – Eisenach –
Kassel, die allerdings an der preußischen Verwaltung scheiterte
[223]
.
Leichter tat man sich offenbar mit dem europäischen Ausland. „Im
Entwurfe der Sommerfahrordnung 1901 sind zur Herstellung einer weiteren
direkten Verbindung zwischen Paris und Karlsbad über Würzburg –
Bamberg – Neuenmarkt-Wirsberg – Kirchenlaibach – Eger zwei neue
Schnellzüge vorgesehen, welches sämmtliche drei Wagenklassen führen
und voraussichtlich mit direkten Wagen ausgerüstet werden.“
[224]
Wer in Coburg oder Ebersdorf eine Fahrkarte kaufen
wollte, konnte überdies – mitten im Deutschen Reich –
Währungsprobleme bekommen. Denn das Königreich Bayern hatte das Recht,
eigene Briefmarken und Banknoten herauszugeben, und – wie 1902 beklagt
wurde – wollten „die preußischen Eisenbahnkassen,
Fahrkarten-Ausgabestellen und auch sonstige preußische Behörden
bayerische Banknoten nicht in Zahlung nehmen“
[225]
.
Umgekehrt konnte man in Lichtenfels kein Kuvert mit einer Briefmarke
frankieren, die man in Weidhausen oder Untersiemau gekauft hatte.
Dem Bahnhof gegenüber bauten bzw. erweiterten die beiden
Korbhandelsunternehmen Zinn und Pauson ihre Geschäftshäuser. Denn
Lichtenfels wurde bekanntlich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zum
Zentrum des Korbhandels mit weltumspannender Bedeutung, beliefert 1886
von ungefähr 13000 Korbmachern „bei einem Umsatz von 3½ Millionen
Mark und einem Absatzgebiet, das sich nach allen zivilisirten Ländern
der Erde erstreckt“
[226]
.
Neben den Korbhändlervillen wuchsen in Lichtenfels große Lagerhäuser
aus dem Boden. Das beherrschendste war fraglos das 1890/91 an der
Langheimer Straße gebaute Lager der AG für Korbwaaren-Industrie, die
1871 der Franzose Amédé Hourdeaux gegründet hatte.
Der badische Unternehmer Emil Spreng gründete 1864 in
der Bamberger Straße eine Gasfabrik, die nicht nur die Bürgerhäuser,
sondern auch die neuen Straßenlaternen mit Brennmaterial versorgte.
1910 wurde sie von der Stadt übernommen, die hier acht Personen
beschäftigte.
Einen Elektrizitätsproduzenten gab es in Lichtenfels um
die Jahrhundertwende noch nicht. 1905 bestanden private
Elektrizitätswerke in Altenkunstadt, das auch Burgkunstadt versorgte,
in Hochstadt, Michelau und Staffelstein
[227]
;
kurz darauf kam Redwitz hinzu, wo schon 1899 der Mühlbesitzer Georg
Wagner (1831–1900) die Einrichtung einer „elektrische[n] Centrale“
ins Auge gefaßt hatte
[228]
.
Das Hochstadter Werk, gegründet von dem Trieber Gutsbesitzer Benecke,
produzierte ab Januar 1902 Strom
[229]
,
das von einer Stuttgarter Firma gebaute Elektrizitätswerk Altenkunstadt
im Jahr 1904
[230]
.
Das zunächst durch Wasserkraft, später durch einen 50-PS-Diesel-Motor
angetriebene Michelauer E-Werk, das einem Michelauer Korbhändler, einem
Wirt, dem Burgkunstadter Schuhfabrikanten Hans Püls und dem Weismaier
Brauer Georg Püls gehörte, nahm 1903 seinen Betrieb auf, anfangs mit
nur 15 Abnehmern. 1912 stellte dieses Werk schon seinen Betrieb ein;
fortan kam der Strom für Michelau vom Überlandwerk Ebensfeld
[231]
.
1900 erhielt Lichtenfels die lange herbeigesehnte
Wasserleitung, die Staffelstein damals bereits zehn Jahre besaß. Die
Stadt ließ durch das Münchner Bauunternehmen Philipp Holzmann &
Co. eine Hochdruckwasserleitung legen
[232]
.
Sie führte Wasser – damals immer wieder als besonders gutes
Trinkwasser beurteilt – von Schwabthal nach Lichtenfels. Auch die
Gemeinden Burgberg und Seubelsdorf waren angeschlossen. In den meisten
Dörfern des Landkreises dagegen musste das Trink- und das Brauchwasser
noch Jahrzehnte später wie von altersher an mehreren öffentlichen
Brunnen geholt werden. Selbst in einem großen Ort wie Michelau entstand
eine moderne Wasserversorgung erst 1963
[233]
.
Im Umkreis des Lichtenfelser Bahngeländes wurde 1897,
etwas versteckt hinter einem großen Bahngebäude, das neue Postamt
errichtet, im selben Jahr, in dem Lichtenfels an das Telefonnetz
angeschlossen wurde. Das Telefon verkörpert eine der wichtigsten,
zukunftsweisenden Innovationen: Das Kommunikationsnetz wurde,
eingeleitet schon durch den Telegrafen, vollends unabhängig vom
Verkehrsnetz; man konnte Nachrichten übermitteln, ohne dass ein Mensch
oder ein Gegenstand zum Ziel befördert werden musste.
1893 hatte das Lichtenfelser Bezirksgremium für Handel
und Gewerbe auf die Einrichtung einer öffentlichen Sprechstelle
gedrungen
[234]
.
Doch erst vier Jahre später ging der Wunsch in Erfüllung.
Zuversichtlich berichtete 1897 die Handels- und Gewerbekammer für
Oberfranken: „Nachdem der Stadt Lichtenfels die Errichtung einer
öffentlichen Telephonanlage von zuständiger Stelle zugesagt [ist] und
sich auch bereits 22 Firmen zum Abonnement verpflichtet haben, so
dürfte die Anlage gesichert sein. Da in Lichtenfels ein ausgedehnter
und reger Exporthandel betrieben wird, so bitten die Interessenten, dass
sie telefonisch mit den Städten: Coburg, Sonneberg, Frankfurt a./M.,
Mainz, Mannheim, Cöln, Bremen, Hamburg, Berlin, Leipzig und Dresden
verbunden werden, denn dadurch würde die Anlage vollen Erfolg und
größte Rentabilität erzielen.“
[235]
Doch war aller Anfang schwer. Denn man konnte sich durch
das Fräulein vom Amt keineswegs an alle Orte verbinden lassen. 1903/04
klagten die drei großen Lichtenfelser Spediteure Gutmann, Rosenberg,
Loewe & Co. und Gondrand, „daß Lichtenfels immer noch nicht zum
Sprechverkehr mit den nordthüringischen Industriestädten Ilmenau,
Waltershausen, Ohrdruf, Kahla u. A. zugelassen ist. Es schädigt die
genannten Speditionsgeschäfte, wenn dieselben sich nicht ebenso wie die
Thüringer Konkurrenzfirmen mit den Fabrikanten an den genannten
Plätzen über Verfrachtungen telephonisch verständigen können.
Selbstverständlich entgehen dadurch auch der bayerischen Staatsbahn
eine große Zahl Frachtgüter. Auch der längere Zeit schon angestrebte
Sprechverkehr mit Berlin, der für den Lichtenfelser Platz von
Wichtigkeit ist und sicher lebhaft benutzt werden würde, wird bei
dieser Gelegenheit wiederholt in Erinnerung gebracht und dessen baldige
Einrichtung angelegentlichst empfohlen.“
[236]
Den Korbhändler lag überdies an einer
Fernsprechverbindung zu ihren Lieferanten in Michelau, Schwürbitz,
Redwitz, Buch a. Forst sowie Weidhausen und Sonnefeld: „Der Verkehr
mit diesen Orten würde sich von Lichtenfels aus sehr lebhaft gestalten
und sich in Folge dessen auch rentabel erweisen.“
[237]
Michelau wurde im November 1905 tatsächlich an das Telefonnetz
angeschlossen
[238]
,
und die Handels- und Gewerbekammer war mit dem Ergebnis hochzufrieden:
„aus dem Verkehr dieser Neuleitung dürfte wohl ersichtlich sein, wie
sich die Anlagen nach den übrigen Korbmacher-Ortschaften gestalten und
rentieren werden.“
[239]
Technische Probleme kamen hinzu, wie die Handels- und
Gewerbekammer 1908 darlegte: „Mehrseitig wird darüber Klage geführt,
daß die Gespräche von Lichtenfels nach Frankfurt a. M. und Mannheim
zumeist sehr undeutlich gehört werden, während auf weitere
Entfernungen, z. B. nach Köln a. Rh. die Verständigung ausgezeichnet
ist.“
[240]
Doch die Bahn und die großen Wirtschaftsbetriebe
forderten nicht nur technische Verbesserungen und
Verwaltungsvereinfachungen – jahrelang kämpfte man, schließlich
erfolgreich, um ein Nebenzollamt –, es wurden auch Einrichtungen
gewünscht, die man heute zu den „weichen Faktoren“ zählen würde.
Das Bezirksgremium für Handel und Gewerbe in Lichtenfels bat ab 1892
„wiederholt um Errichtung einer Realschule in der Stadt Lichtenfels
und führt zur Begründung an, daß durch Errichtung einer
Eisenbahn-Reparaturwerkstätte in Lichtenfels und durch den Betrieb der
Eisenbahnstrecke Lichtenfels – Probstzella viele Beamte und
Bedienstete mit Familien nach Lichtenfels versetzt wurden. Diese Beamten
und Bediensteten haben den lebhaftesten Wunsch, ihre Kinder in
Lichtenfels unterrichten lassen zu können; sie fühlen sich sehr
unzufrieden, daß sie ihre Kinder in dem Alter, wo sie noch der
elterlichen Pflege und Aufsicht bedürfen mit großen Kosten nach
Städten geben müssen, wo Mittelschulen vorhanden sind.“
[241]
Aus diesem Wunsch ging schließlich 1904 die vierstufige Realschule
hervor, die sich zum heutigen Meranier-Gymnasium entwickelte.
Nicht nur dank der Bahnbehörden, doch auch dank der
übrigen Ämter, die ihren Sitz in Lichtenfels hatten, und der
Korbhandelsfirmen und Speditionen mit ihren Angestellten gewann
Lichtenfels urbane Züge, wie 1914 der evangelische Pfarrer Georg
Friedrich (1871–1951) feststellte: „Die Gemeinde, obwohl nur
Kleinstadt, trägt den Charakter einer Großstadtgemeinde an sich mit
ihren Vorzügen und Fehlern, mit ihren Tugenden und Lastern, wie man ja
auch die Stadt Lichtenfels im Scherz, jedoch in gewisser Hinsicht nicht
ganz mit Unrecht ,Klein-Paris’ nennt.“
[242]
Für die allgemeine Verwaltung war das Bezirksamt
zuständig, um 1900 noch untergebracht im ersten Stock des Lichtenfelser
Rathauses. An der Spitze dieser Behörde stand Friedrich Edler von Braun
(1863–1923)
[243]
,
der 1898 den aus Gesundheitsgründen pensionierten Bezirksamtmann Franz
Messert abgelöst hatte. Braun, in Nürnberg geboren, hatte als Assessor
am Bezirksamt Neustadt a. d. Waldnaab, im Kultusministerium und bei der
Regierung von Unterfranken Verwaltungserfahrung gesammelt; in
Lichtenfels war er erstmals mit der Leitung einer Behörde betraut. Als
Dienstwohnung war ihm das heutige Rathaus II zugewiesen.
Braun entwickelte bemerkenswerte Aktivitäten, die Lage
der Korbmacher zu verbessern. Namentlich propagierte er die Gründung
von Genossenschaften – und zwar mit Erfolg: Auf sein Betreiben hin
entstanden 1901 in 16 Dörfern Genossenschaften, deren Aufgabe es war
Material und Werkzeuge für ihre Mitglieder einzukaufen
[244]
.
Der beinahe großstädtische Charakter von Lichtenfels
drückte sich auch im ungewöhnlich lebhaften politischen Meinungsstreit
aus. „Das politische Parteiwesen muß als ein reges bezeichnet werden“,
urteilte 1914 der evangelische Pfarrer Georg Friedrich
[245]
.
Der Wahlkreis Kronach-Lichtenfels war im Reichstag
vertreten durch den „Ökonomen“ Philipp Brückner aus Burgkunstadt,
der 1898 als Kandidat des Zentrums gewählt worden war. In Lichtenfels
hatten ihn neben dem Pfarrer vor allem Handwerker unterstützt
[246]
,
während für seinen liberalen Gegenkandidaten, den Volksschullehrer
Hans Sandner (1863–1946)
[247]
in Lauenhain bei Ludwigsstadt, die Lichtenfelser Haute-volée
eingetreten war: Oberamtsrichter Ludwig Edler von Melzl
[248]
,
Bezirksingenieur Lorenz Demeter
[249]
– ein Bahnbeamter –, Bezirkstierarzt Carl Ritzer, Bezirksgeometer
Joseph Knauer – der Leiter der Messungsbehörde –, Bürgermeister
Adam Wenglein und sein Sohn, der Apotheker Stefan Wenglein, die
Korbhändler Georges Krauß, Philipp Zinn und Benny Brüll, der
Holzhändler und Sägewerksbesitzer Hans Rupp, der Kaufmann Nikolaus
Schmidt, der Fabrikant Julius Schlesinger und der Rotgerber und
Magistratsrat Andreas Mahr
[250]
(ab 1912 Bürgermeister). Gleichwohl hatte Sandner in der Stadt nur 36
Prozent der Stimmen erreicht, Brückner dagegen 56 Prozent. Im
evangelischen Michelau entfielen auf den Liberalen dagegen 62 Prozent
der Stimmen. Im ganzen Wahlkreis hatte Sandner mit 15 Prozent nur an
dritter Stelle gelegen, so dass Brückner, der mit 47 Prozent die
absolute Mehrheit verfehlt hatte, in einer Stichwahl gegen der
SPD-Kandidaten, den Nürnberger Redakteur Johann Scherm (1851–1940)
[251]
,
hatte antreten müssen
[252]
.
Scherm hatte im ersten Wahlgang besonders gut in Schney abgeschnitten,
wo er 259 der 285 Wähler auf seiner Seite hatte (91 Prozent). In
Marktzeuln erreichte Scherm 58 Prozent, in Michelau 28, in Weismain 26,
in Burgkunstadt 16, in ganzen Wahlbezirk 22.
Bei den Landtagswahlen gehörte Lichtenfels aus
taktischen Erwägungen der liberalen Regierung heraus zum Wahlkreis Hof,
der vier Abgeordnete in den Landtag entsandte, darunter meist einer aus
dem Raum Lichtenfels. Nachdem Adam Wenglein 1898 nicht mehr angetreten
war, hatten die Wahlmänner den Müllermeister und langjährigen
Bürgermeister Leonhard Partheymüller aus Marktzeuln zum Abgeordneten
bestimmt, einen Liberalen
[253]
.
Gegen die liberale Kandidaten begünstigende „Wahlkreisgeometrie“
liefen das Zentrum, das über die Mehrheit im Landtag verfügte, und die
Sozialdemokraten Sturm. Erst 1905 jedoch stimmte der Prinzregent einer
Wahlkreisreform zu, der 1907 das direkte Wahlrecht folgte
[254]
.
Lichtenfels gehörte ab 1905 zum Wahlkreis Staffelstein-Lichtenfels, in
dem prompt der politische Katholizismus mit dem Geometer Rudolf Kanzler
(1873–1956) den Sieg davontrug.
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