Die Idee der modernen Siedlung hat ihre Wurzeln hauptsächlich im England
des 19. Jahrhunderts. Dort setzte ab circa 1740 ein starkes Bevölkerungswachstum
ein, das zusammen mit der Agrarrevolution, in deren Folge das freie Bauerntum
weitgehend beseitigt wurde, eine breite Binnenwanderung der bäuerlichen
Bevölkerung in die Industriestädte auslöste, die Arbeitsplätze und Brot
versprachen. So kam es bereits nach kurzer Zeit zu einem explosionsartigen
Wachstum der Industriereviere. Es bildeten sich rasch riesige Armenviertel
(Slums). Die meisten Bewohner dieser Armenviertel waren zeitweilig arbeitslos
oder arbeiteten für einen Lohn, der unter dem F-xistenzminimum lag, in
einer der zahlreichen Fabriken. Sie lebten unter menschenunwürdigen Bedingungen.
Es kam zu großen Hungersnöten unter der armen Bevölkerung und einer immer
schlimmeren Wohnungsnot.
Um diese erwähnten Mißstände zu beheben, gab es am Ende des 19. Jahrhunderts
unterschiedliche Lösungsvorschläge. (3) So verlegten z. B. einige Industrielle
(Salt, Cadbury, Lever) ihre Fabriken auf das Land und nahmen ihre Arbeiter
mit. Ein anderer Vorschlag kam von Ebenezer Howard. Er sah die Stadt als
einen Magneten, zu dem man einen Gegenpol schaffen müsse. Diesen Gegenpol
sah er auf dem Land. Er entwickelte das Modell der Gartenstadt, in der
er die Vorteile der Stadt mit denen des Landes verknüpfen wollte. In seinem
1889 erschienenen Werk "Garden Cities of Tomorrow" beschreibt er diese
Idee und stellt ein Reformprogramm für die Industriestädte auf.
In Deutschland wurde schon zwei Jahre vorher eine Abhandlung von Theodor
Fritsch - "Die Stadt der Zukunft" - veröffentlicht. (4) Sie enthält den
Vorschlag für ein Stadtmodell, das viele Ähnlichkeiten mit Howards Gartenstadtmodell
aufweist. Die gemeinsame Idee lag darin, Gartenstädte um eine Mittelstadt
anzulegen. Diese sollten aber nicht wie Vorstädte Zulieferer der Großstadt
sein, sondern eigenständige, lebensfähige Gebilde werden. Privater Grundbesitz
wurde abgelehnt. "Die Besiedlung soll nach einem festen Schema vorgenommen
werden, in dem jeder Bevölkerungsschicht ein spezifischer - Platz zugewiesen
wird." (5)
Howards Interesse bei der Verteilung des Grundbesitzes galt vor allem
der wohnlichen Unterbringung des Proletariats. Er hoffte, dadurch die
wachsende Unzufriedenheit im Volk abzuschwächen. Solche Überlegungen lagen
Fritsch fern. Er plante eine Einteilung der Stadt, die dem sozialen Gefälle
entsprechend von innen nach außen geordnet sein sollte. (a) Bei allen
weiteren Reformvorschlägen, die um die Jahrhundertwende gemacht wurden,
standen die Gedanken von Howard und Fritsch im Mittelpunkt.
Anfang des 20. Jahrhunderts war die gesellschaftliche Problemsituation
durch "die Auswüchse der Bodenspekulation, die allgemeine Verelendung
der unteren Schichten, die Resonanz der Stadtreformer - auch bei der organisierten
Arbeiterschaft- und die Unmutsäußerungen der bürgerlichen Mittelschicht"
(6) so groß, daß sich auch der Staat gezwungen sah, Wohnungspolitik zu
betreiben. In seiner Funktion als Arbeitgeber stellte er Miet- oder Dienstwohnungen
für Beamte und Staatsangestellte (Eisenbahn, Post, Heer) zur Verfügung.
Wohnungspolitisch entwickelte er ein wachsendes Interesse an Industriearbeitersiedlungen.
Er wollte dafür soviel Land zur Verfügung stellen, daß sich die Arbeiter
mit landwirtschaftlichen Produkten selbst versorgen konnten. Dies führte
schließlich zum Siedlungsgesetz von 1910, das "mit gleichen Mitteln 'Verbindung
des Menschen mit dem Boden' - einer weiteren Verstädterung entgegenzuwirken"
(7) versuchte. Im Gefolge dieses Gesetzes wurden neue Siedlungen gegründet,
die in den Grundzügen, also in Anlage und Gestaltung, den Gartenstadtideen
entsprachen. Durch den 1. Weltkrieg wurde die staatliche Wohnungsbaupolitik
unterbrochen, danach aber wieder aufgenommen.
|
Anmerkungen
(3) vgl. Howard, 1986, Vorwort
(4) vgl. Peltz/Dreckmann, 1978, S. 44 ff.
(5) Peltz/Dreckmann, 1978, S. 45
(6) ebd. S. 54
(7) ebd. S. 55
|